Das Corona-Virus hat die Welt aus den Angeln gehoben. Was an Weihnachten noch undenkbar war, war an Ostern schon längst bittere Realität. Das öffentliche Leben ist weltweit weitgehend lahmgelegt und die Weltkonjunktur abgewürgt. Die Gesundheitssysteme selbst wohlhabender Länder ächzen unter der Last der zu Behandelnden und die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen wächst scheinbar unaufhaltsam. Die Weltwirtschaft liegt bis auf wenige Bereiche am Boden und keiner kann derzeit seriös sagen, wie lange dieser Zustand noch Bestand haben wird und wie die Welt danach aussehen wird.
Der ÖPNV leidet in diesen Zeiten gebotener und verordneter räumlicher Distanzierung, also dem bewussten Abstandhalten zu potenziell infektiösen Mitmenschen, um Ansteckung durch Tröpfcheninfektion zu vermeiden, in ganz besonderem Maße. Jeder der schon einmal zur Hauptverkehrszeit in einem überfüllten Bus und einem Zug mitgefahren ist und den Atem der Mitfahrenden im Nacken gespürt hat, kann sich dies aktuell nicht mehr vorstellen.
Da wundert es nicht, dass öffentliche Verkehrsmittel derzeit kaum noch genutzt werden und die meiste Zeit relativ leer unterwegs sind. Aus wirtschaftlichen Überlegungen bieten die meisten Verkehrsunternehmen mittlerweile fast überall nur noch ein „verlässliches Grundangebot“ an, was aber zu Stoßzeiten teilweise wieder überfüllten Verkehrsmitteln geführt hat.
Der Verkauf von Einzel- und Tagestickets ist massiv eingebrochen und immer mehr Inhaber von Jahrestickets fragen sich, warum sie eigentlich monatlich für eine Leistung bezahlen sollen, die sie gar nicht mehr nutzen können, entweder weil sie derzeit von zu Hause aus arbeiten müssen oder wegen Betriebsschließungen überhaupt nicht arbeiten können. Der Fahrkartenverkauf in Bussen wurde schon vor Wochen eingestellt, was zur Folge hat, dass sich vor allem ältere Menschen ohne Smartphone und Internetzugang keine Bustickets mehr kaufen können, zumal es in ländlichen Gebieten keine Fahrkartenautomaten an den Bushaltestellen gibt. In einigen Ländern wurde der Bus- und Bahnverkehr wegen der Ansteckungsgefahr zumindest temporär komplett eingestellt.
Man kann davon auszugehen, dass die derzeitigen Beschränkungen in der nächsten Zeit schrittweise gelockert werden, um den wirtschaftlichen Schaden wenigstens halbwegs in Grenzen zu halten. Die Ansteckungsgefahr wird aber so lange bestehen bleiben, bis die Bevölkerung entweder immun oder gegen das Virus geimpft ist. Mit beidem ist weder kurz- noch mittelfristig zu rechnen. Wer vernünftig aus dem Homeoffice arbeiten kann, wird dies auch noch auf absehbare Zeit sehr häufig tun. Wer kein Homeoffice machen kann, weil seine Anwesenheit am Arbeitsplatz zwingend erforderlich ist, wird die öffentlichen Verkehrsmittel wegen der Ansteckungsgefahr möglichst meiden.
Zwar ist die sogenannte „Schmierinfektion“, also beispielsweise die Infektion beim Anfassen von Haltestangen, Türöffnern etc. nicht nachgewiesen und sogar unwahrscheinlich, jedoch ist die Gefahr, vor allem in vollen öffentlichen Verkehrsmitteln durch Tröpfcheninfektion angesteckt zu werden nicht von der Hand zu weisen. Inwieweit die aktuell von der Wissenschaftsakademie Leopoldina empfohlene Maskenpflicht im ÖPNV dagegen schützt (gemeint ist vermutlich ein einfacher Mund-Nasen-Schutz), ist selbst unter Experten umstritten.
Es gibt Verkehrsverbünde, die ihren Kunden derzeit die Möglichkeit einräumen, ihre Zeitticket-Abonnements für einen gewissen Zeitraum ruhen zu lassen, andere erstatten ihren Kunden zumindest einen Teilbetrag zurück. Der Verkehrsverbund Stuttgart (VVS), unter dessen Dach auch die S-Bahn Stuttgart fährt, hält sich bislang diesbezüglich sehr zurück und bittet seine Kunden auf seiner Webseite mit folgendem Hinweis zum Umgang mit VVS-Zeittickets und Abonnements um Geduld:
„Derzeit möchten viele Fahrgäste wissen, wie es sich mit den Zeittickets oder Abonnements verhält, wenn man angesichts der Corona-Pandemie für längere Zeit nicht die Busse und Bahnen im VVS nutzen kann. Gemeinsam mit den Verkehrsunternehmen und der öffentlichen Hand versuchen wir, hierfür eine Lösung zu finden. Wir bitten unsere Fahrgäste jedoch um Verständnis und Geduld, wenn wir im Hinblick auf die außergewöhnliche Krisensituation für die Beantwortung dieser Frage noch etwas Zeit benötigen. Zu gegebener Zeit werden wir Sie weiter informieren.“
Es ist zu befürchten, dass viele treue Zeitticket-Kunden ihre Abos kündigen, wenn der VVS mit seiner Entscheidung noch lange zögert oder wenn diese Entscheidung für die Fahrgäste unbefriedigend ausfällt. Wer in den nächsten Monaten nur noch selten oder gar nicht mehr zur Arbeit fährt, braucht eigentlich kein VVS Zeitticket mehr. Entweder weil er mit dem bedarfsgerechten Kauf von Einzel- oder Tagestickets günstiger fährt, oder weil er aus Ansteckungsgründen lieber ein anderes, eigenes Verkehrsmittel nutzt. Dem VVS droht somit nach den Einzel- und Tagestickets auch noch ein zweites finanzielles Standbein wegzubrechen, die Jahresticket-Abonnements.
Diese Krise muss Anlass für völlig neues Denken und für radikale Veränderungen im ÖPNV sein:
Wenn die Menschen wieder mit Bahnen und Bussen fahren sollen, muss insbesondere in den Hauptverkehrszeiten mehr Platz in den Zügen und Fahrzeugen sein. Das Platzangebot muss also so weit wie irgend möglich erhöht werden, damit vor allem drangvolle Nähe der Fahrgäste der Vergangenheit angehört. Dann kann die ÖPNV-Finanzierung aber nicht mehr in gleicher Weise von den Ticketerlösen abhängig sein, wie sie es bisher ist. Natürlich bedeutet dies, dass die Steuerzahler über die öffentliche Hand erheblich mehr zur Finanzierung beitragen müssen, unabhängig davon, ob sie den ÖPNV nutzen oder nicht. Aber die Autofahrer profitieren ja auch, wenn die Straßen weniger befahren und die Staus geringer sind.
Wenn hier nicht entschlossen reagiert, entschieden und gehandelt wird, geraten die dringend notwendige Verkehrswende und ihr Beitrag zur Dämpfung des Klimawandels in höchste Gefahr. Die Natur wird nicht zögern, unseren nachfolgenden Generationen die Rechnung für die Folgen eines ungebremsten Klimawandels zu präsentieren. Und diese Rechnung könnte erheblich höher ausfallen als für die Folgen der aktuellen Virusepidemie.
Ich bitte die Abo-Besitzer (wenn sie es sich irgendwie finanziell leisten können), ihre Abos nicht zu kündigen und damit den VVS nicht in eine noch schwierigere Situation zu bringen.
Normalerweise bezahle ich mein Abo natürlich für die Dienstleistung, die ich dafür bekomme. In der aktuellen Situation aber ordne ich mein VVS-Abo ähnlich ein wie meine Mitgliedschaft im Deutschen Jugendherbergsverband: Ich nutze zwar die Mitgliedschaft nicht, aber ich möchte den Verband unterstützen. Das ist für mich einfach eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung: Es ist ja (auch) mein persönliches Interesse, sowohl den DJH als auch den VVS als Angebot für alle am Leben zu erhalten.
Klar muss die Forderung in erster Linie sein, dass die Öffentliche Hand (auch aus meinen Steuermitteln) den VVS (und den DJH) unterstützt – aber, wer es sich leisten kann, sollte hier, glaube ich, diese Unterstützung durch sein Abo persönlich aufstocken. Mein Nutzen besteht halt dann nicht darin, dass ich den VVS aktuell nutzen kann, sondern darin, dass ich ihn auch perspektivisch noch nutzen kann (weil er nicht in finanzielle Schieflage gerät) – und dass Zeit gekauft wird für die Umstellung darauf, dass die ÖPNV-Finanzierung perspektivisch von den Ticket-Erlösen abgekoppelt wird. Diese Umstellung gelingt mit einem an die Wand gefahrenen VVS vermutlich noch schwieriger (und mit schlechterem Angebot) als wenn „nur“ die Politik noch nicht mitzieht.
Wenn meine „Mitgliedschaft“ beim Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) soviel kosten würde wie eine Mitgliedschaft beim Deutschen Jugendherbergsverband (DJH), dann hätte ich mir nicht die Mühe gemacht diesen Text zu schreiben. Die Mitgliedschaft beim DJH kostet 22,50 €, mein VVS Firmenticket aber 1710,96 € pro Jahr.
Wer auf dieses Geld gut verzichten kann, sollte die Abbuchungen ruhig weiterlaufen lassen. Ich fürchte nur, dass es sich hierbei um eine kleine Minderheit handelt, die sich statt eines VVS Jahrestickets lieber einen Zweit- oder Drittwagen leistet. Menschen, die aktuell um ihren Arbeitsplatz bangen oder wegen Kurzarbeit ihre Miete nicht mehr bezahlen können, sind dazu sicher nicht bereit.
Ich habe ja geschrieben: „wenn sie es sich irgendwie finanziell leisten können“. Ist doch klar, dass die Kosten für manchen zu hoch sind.
Ich persönlich habe zwar keinen Zweit- oder Drittwagen (nur einen alten Golf), bin Rentner, der sich mit seiner Miete schwertut – aber bei mir kostet das Ticket auch nur 560 Euro im Jahr.
Sehr geehrter Herr Poguntke
Ihre vorgeschlagene Vorgehensweise hat sich meiner Meinung nach die VRS verspielt,
als Sie seit 1.April die Preiserhöhung durchgeführt hat für weniger Leistung. Die davor propagierte Preiserniedrigung durch die vereinfachte Ringstruktur hatte bei mir genau 0,00Eur ausgemacht.
Aus der Erfahrung heraus werden die Zeitkarten/Jahreskarten-Abo Kunden wieder mal übervorteilt. Ganz zu schweigen von den ständigen Zugausfällen, Zugverspätungen und Behinderungen durch Materialausfall, die auch gestern mal wieder erfolgten, das paßt irgendwie nicht zusammen. Sie merken es : mein „Verständnis“ für die VRS geht gegen 0
Coronakrise in der Region Stuttgart – VVS denkt an Bleibeprämie für Stammkunden:
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.coronakrise-in-der-region-stuttgart-vvs-denkt-an-bleibepraemie-fuer-stammkunden.e8606e2e-a76c-4806-81da-8673292b3c42.html
An eine Bleibeprämie „denken“ reicht nicht Herr Stammler, jetzt muss zeitnah „gehandelt“ werden. Wer erst mal sein VVS-Abo gekündigt hat und hierbei eine hohe Nachzahlung plus Bearbeitungsgebühr zahlen musste, der ist als VVS-Kunde höchstwahrscheinlich für immer verloren.
Die Folgen von Corona für den ÖPNV – Kurz vor Totalschaden:
https://www.spiegel.de/auto/corona-und-oepnv-perfekter-sturm-fuer-bus-und-bahn-a-c6e040cb-127b-4a82-ba92-e36cb7f5036e
In der Coronakrise gelten Busse und Bahnen als Risikogebiete. Menschen meiden den ÖPNV, die Umsätze brechen ein. Das Vertrauen wiederherzustellen, ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Rufe nach einer Mobilitätssteuer werden laut.
Die ÖPNV-Nutzung ist in vielen Städten um 70 bis 90 Prozent eingebrochen. Gelegenheitskunden machen 50 Prozent des Fahrkartengeschäfts aus. Die sind von jetzt auf gleich weggebrochen. Bei üblichen Fahrgastzahlen zu Stoßzeiten und 1,5 Meter Abstand bräuchten wir das Vierfache des Fahrangebotes.
Das Auto hat in Zeiten von Corona mehr Wohlfühlfaktor, aber ohne ÖPNV gibt es keine Verkehrswende.
Die Stuttgarter Ratsfraktionen wollen erreichen, dass sich die Fahrgäste in der Coronakrise nicht massenweise von öffentlichen Verkehrsmitteln abwenden. Das will auch OB Kuhn. Er mahnt im Rathaus allerdings zur Vorsicht:
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.vvs-soll-zugestaendnisse-machen-stadt-will-stammkunden-beim-nahverkehr-halten.ffa382ee-4324-4db7-96fe-a3a957ff82ac.html