Im Verkehrsausschuss des Regionalparlaments wurde am 22.01.2025 gleich im ersten Tagesordnungspunkt intensiv über automatisiertes Fahren der S-Bahn diskutiert. Ausgangspunkt war eine Sitzungsvorlage, die mit der Kritik an der scheidenden Bundesregierung begann, in deren Strategieüberlegung zum automatisierten Fahren seien nur autonom fahrende Straßenfahrzeuge, nicht aber der Schienenverkehr erwähnt, der eigentlich die besten Voraussetzungen für eine Automatisierung biete. Hier sollte zunächst der Nahverkehr ins Blickfeld gerückt werden, weil dort die Personalkostenanteile höher und der Mangel an Triebfahrzeugführer*innen gravierender als im Fernverkehr seien.
Im Zuge der laufenden Ertüchtigung für Digitalisierung und ETCS werden nach Angaben aus dem Projekt Digitaler Knoten Stuttgart (DKS) sowohl die S-Bahnfahrzeuge als auch die Infrastruktur schon mit der Technik versehen, die mit ATO (Automatic Train Operation) GoA 2 (Grade of Automation Level 2) einen teilautomatisierten Fahrbetrieb, noch mit Triebfahrzeugführer*innen an Bord, ermöglichen soll. ATO GoA 2 bedeutet grob gesagt, dass nach Kommando des Fahrers der Zug automatisch anfährt, selbsttätig mit der gewünschten bzw. zulässigen Geschwindigkeit weiterfährt und schließlich für den nächsten Halt automatisch bis zum Stillstand genau am vereinbarten Punkt abgebremst wird. Im Verkehrsausschuss wurde die technische Vorbereitung für ATO begrüßt, aber auch nach konkreteren Informationen hinsichtlich des Wo und Wie des Testens sowie nach der zeitlichen Einschätzung des Weges zu ATO gefragt.
Die Verbandsgeschäftsstelle brachte hierzu den Streckenabschnitt Vaihingen – Filderstadt als Teststrecke ins Gespräch, weil dieser sich dazu am besten eigne. Zur zeitlichen Einschätzung kam der einschränkende Hinweis, dass die Inbetriebnahme von ATO im Realbetrieb über die Fertigstellung von ETCS und DKS hinaus von zahlreichen weiteren Voraussetzungen in Form von Beiträgen und dem Verhalten vieler Beteiligter wie Fahrzeughersteller, Infrastrukturbetreiber, Verkehrsunternehmen, Aufsichtsbehörde und europäischen Institutionen, sowie von „validen Lösungen“ für einige technische Fragen wie z. B. einer sicheren Datenübertragung und von einem passenden Rechtsrahmen im Regelwerk für die Betriebsführung unmittelbar abhängig sei. Ich meine mich an die vorsichtige Aussage von VRS-Verkehrsdirektor Dr. Wurmthaler zu erinnern, dass ATO GoA 2 bei der Stuttgarter S-Bahn ab 2030 möglich sein könnte.
Dass die Einführung von ATO nicht ganz einfach zu sein scheint, zeigt ein Blick in die Schweiz. Dort hat das Bundesamt für Verkehr (BAV) bereits 2022 die Einführung von ATO für die Bahngesellschaft BLS (Bern-Lötschberg-Simplon) und vor einigen Monaten auch den erneuten ATO-Einführungsantrag für die SOB (Schweizer Südostbahn) abgelehnt. Ganz abgesehen davon wird es sicherlich eine Fülle von Fragen auch an automatisiertes Fahren der Stuttgarter S-Bahn geben, deren vollzählige Formulierung diesen Beitrag überfordern würde. Ein vollautomatischer, fahrerloser Betrieb der S-Bahn – er wird mit dem Fachbegriff ATO GoA 4 bezeichnet — darf hier zunächst in den Hintergrund treten, denn dieser zeichnet sich für meine Begriffe noch nicht am Horizont ab. So kommt z. B. die Fahrzeugbaureihe 423 für ATO GoA 4 im Lauf ihrer Nutzungszeit voraussichtlich gar nicht mehr in Frage.
Für mich erhebt sich aber neben Skepsis und Fragen, ob und wie schnell ATO eingeführt werden könnte, die fast entgegengesetzte Frage, ob denn ETCS ohne ATO bei der S-Bahn überhaupt wirkungsvoll betrieben werden kann. Für die Zugfolge auf einem stark befahrenen Streckenabschnitt spielen Einfahren, Halten am Bahnsteig und Weiterfahren die zeitlich dominierende Rolle. Daher muss die Infrastruktur in und um die Haltepunkte technisch besonders leistungsfähig ausgerüstet werden. In einem Artikel der Fachzeitschrift ‚Eisenbahn-Ingenieur‘ zum aktuellen Sachstand des Digitalen Knotens Stuttgart (EI / Januar 2025, Abbildung 6, S. 27) wird gezeigt, dass an einem S-Bahnhaltepunkt im Bahnsteigbereich über ca. 320 Meter Länge insgesamt 40 Datenpunkte oder Informationsgeber in oder neben dem Gleis installiert sind. Diese große Ansammlung — die Fachleute nennen sie „Balisenteppich“ — kann etwa alle 5 – 10 Sekunden veränderte Fahranweisungen für den nachfolgenden Zug erzeugen.
Diese in sehr kurzer Folge auf dem Display im Führerstand des Folgezugs eintreffenden Anweisungen werden aus meiner Sicht die Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit der Triebfahrzeugführer*innen darin überfordern, sie im Fahr-/Bremsverhalten entsprechend zeitnah auch umzusetzen. Denn sie treffen ausgerechnet bei der Einfahrt am Bahnsteig im Cockpit ein, wenn das Hauptaugenmerk der Fahrwegkontrolle und dem Verhalten der wartenden Fahrgäste gelten muss. Vermutlich kann nur eine sehr kluge und blitzschnelle Automatik wie z. B. in ATO GoA 2 die notwendige rasche Umsetzung der Fahranweisungen schaffen. So scheint sich die äußerst unliebsame Verknüpfung zu ergeben, dass nicht nur ATO auf ETCS aufbaut, sondern dass auch umgekehrt die von ETCS erwartete Verbesserung ohne ATO GoA 2 ihre Wirkung gar nicht entfalten kann.
Wenn die mögliche zeitsparende Wirkung von ETCS für die S-Bahn ausgerechnet in den Engpassbereichen in und um die stark frequentierten Haltepunkte, wo sie dringend gebraucht wird, mit 2030 erst deutlich später eintreten sollte, würde sich die lange und traurige Kette der Ernüchterungen innerhalb des Gesamtvorhabens einmal mehr fortsetzen.
Wir werden an dieser Fragestellung dranbleiben.
ETCS auch ohne ATO sollte bereits Verbesserungen bringen. Damit werden die neuen, kurzen Blockabstände, in die der Haltebereich in den relevanten Stationen der Stammstrecke unterteilt ist, nutzbar. Der nachfolgende Zug kann also einfahren, sobald ein abfahrender Zug in der Station den ersten Abschnitt verlassen hat.
Zur Leistungsfähigkeit spielen im Vergleich von ETCS zu PZB (wie jetzt) die Bremskurven eine Rolle, die gemäß meinem Verständnis der im DKS-Webangebot veröffentlichten Fachartikel u. a. bei unseren S-Bahnfahrzeugen hochoptimiert sind und ebenbürtig sein sollten. (Der ursprüngliche Zustand ohne PZB-Beeinflussung beim Nachrücken ist ja seit Beginn der S21-Bauarbeiten an der Rampe im Hauptbahnhof mit Erlöschen des Bestandsschutz Vergangenheit.)
Die angesprochenen vielen Balisen dürften Triebfahrzeugführer*innen nicht hinsichtlich häufiger Änderungen der Anzeigen überfordern. Diese erfolgen grob anhand der Anzahl der freien (im fraglichen Bereich kurzen) Blöcke in Distanz zum vorausfahrenden Zug. (Maßgeblich sind dafür mehr die Achszähler zur Freimeldung, denn Balisen sind bei ETCS-Level 2 passiv und die Fahrtfreigabe kommt per Funk vom Radio Block Center.) Bei Einfahrt in eine Station ist zu erwarten, dass die signalisierten Bremsverzögerungen nur aufgewertet werden, sprich die Bremsung dann verringert werden kann, um die Halteposition schneller zu erreichen.
Was keine Signaltechnik verbessert sind natürlich die zum Ein-/Aussteigen benötigten Zeiten und die Türtechnik mit Lichtschranken. Zu hoffen bleibt, dass zukünftige Fahrzeuge für Auslastungen im Stil von Fahrten zum Fußballstadion gut gerüstet sind. Wem sind die Durchsagen „bitte machen Sie die Türen frei“ denn nicht leid.
Zur technischen Einordnung: Die Balisen im Gleis dienen verschiedenen Zwecken. Etwa die Hälfte dient im Kern als Ortsreferenz, die andere Hälfte verlangsamt oder stoppt Züge in der Rückfallebene (ETCS-Betriebsart „Staff Responsible“) [1]. Die Fahrterlaubnisse werden hingegen per Funk übertragen, wobei sich Zug und Strecke auf einen gemeinsamen Bezugspunkt (LRBG [2]) beziehen. In natürlicher Sprache würde die Infrastruktur dem Zug etwa mitteilen: „Du darfst, bezogen auf die Balise 3253, noch 468 m fahren.“ Wird einen Moment später ein weiterer Block frei, würde eine neue Fahrterlaubnis übertragen werden, mit einem neuen Meterwert bezogen auf diese oder andere Balise (LRBG).
Bereits rein mit ETCS kann die Zugfolge um etwa eine halbe Minute verkürzt werden. Die Ausfahrt einer S-Bahn (Langzug, ab Ingangsetzung, bis Räumung Bahnsteig) nimmt heute rund 22 Sekunden in Anspruch. Nach Räumung des Durchrutschwegs (wenige Sekunden später) kann ein Hauptsignal vor dem Bahnsteig „Fahrt“ zeigen, also die Einfahrt in den Bahnsteigbereich zulassen. Mit ETCS und dichter Blockteilung rückt das sozusagen um rund 300 m bzw. eine halbe Minute nach vorne.
Es gibt dabei, grob, drei Fälle:
* Planmäßig hat der vorausfahrende Zug hat den Bahnsteig längst verlassen, wenn der nachfolgende mit der Einfahrt beginnt. In diesem Fall reicht die Fahrterlaubnis über den Bahnsteig hinaus und der Triebfahrzeugführer kann eine freie Bremsung machen, ohne dass er durch ETCS beschränkt würde.
* Das andere Extrem ist, dass der nachfolgende Zug vor dem Bahnsteig zum Halt gekommen ist. In diesem Fall erhält der Zug nach der Räumung der ersten etwa 30 m eine Fahrterlaubnis, die bis zum Bahnsteiganfang reicht und sich dann rasch (alle paar Sekunden) verlängert wird. Bis der nachfolgende Zug sich überhaupt in Bewegung setzt, sind die nächsten Blöcke frei, eilt der vorausfahrende Zug sozusagen dem nachrückenden davon. Auch in diesem Fall gibt es keine relevante Geschwindigkeitseinschränkung von ETCS.
* Einer genaueren Betrachtung bedürfen die Zustände dazwischen, also der nachfolgende Zug dem Bahnsteig (fahrend) bereits relativ nahe ist, wenn sich der vorausfahrende Zug in Bewegung setzt. Hier ist mit einer eher defensiven Fahrweise zu rechnen, da bei aktiver Bremskurvenüberwachung bei jeder verlängerten Fahrterlaubnis ETCS einen Piepton („S_Info“) abgibt. Da im ATO-Betrieb derartige Pieptöne unterdrückt werden, ist auch deshalb mit einer dichteren Zugfolge zu rechnen (neben verschiedenen anderen Effekten) [3]. Doch selbst bei defensiver Fahrweise, die derartige Töne vermeidet, kann der nachfolgende Zug immer noch erheblich dichter nachrücken als im Betrieb mit Lichtsignalen und muss nicht erst darauf warten, dass der gesamte Bahnsteig frei ist.
(Manche werden nun auf die Lösung mit automatisierten Vorsichtsignalen [4] hinweisen, die nach Räumung des halben Bahnsteigs eine Einfahrt mit verminderter Geschwindigkeit zuließ bzw. zulässt. Dabei darf der Zug nur mit 30 km/h einfahren, während ETCS ein insgesamt dichteres und schnelleres Nachrücken zulässt, da mit jedem weiteren durch den vorausfahrenden Zug geräumten Abschnitt die für den nachfolgenden Zug zulässige Geschwindigkeit automatisch angehoben wird.)
[1] https://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/mediathek/detail/download/die-digitalisierung-der-s-bahn-stammstrecke-stuttgart-teil-1-signal-draht-9-2023/mediaParameter/download/Medium/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Last_Relevant_Balise_Group
[3] https://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/mediathek/detail/download/digitalisierung-der-s-bahn-stammstrecke-stuttgart-teil-2-signal-draht-12-2023/mediaParameter/download/Medium/
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Vorsichtsignal#Geschichte