Wie Presse und Medien mehrfach berichtet haben, war die S4 innerhalb von 12 Tagen vom 5. bis zum 16. Oktober 2023 fast im Tagesrhythmus Ziel mehrerer Anschläge: E-Roller, Fahrräder und eine Holzplatte waren nahe der Station Favoritepark aufs Gleis geworfen worden. In fünf Fällen überrollte der Zug die Gegenstände, in zwei Fällen gelang dem Triebfahrzeugführer eine rechtzeitige Bremsung. Am 11. Oktober abends kurz vor 21:00 Uhr war ein Zug nach dem Überrollen eines E-Bikes anscheinend so kaputt, dass er nicht mehr weiterfahren konnte. Die Leidtragenden waren die ca. 100 Fahrgäste, die im Zug bleiben und dort – die Berichte zu diesem Vorfall waren unterschiedlich – zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Stunden bis zu ihrer Evakuierung ausharren mussten.
Nun besteht kein Zweifel, dass die Verantwortung für diesen Vorfall bei demjenigen liegt, der diesen dummen und letztlich lebensgefährlichen Anschlag verübt hat. Es ist zu hoffen, dass er gefunden und von der Justiz deutlich spürbar zur Verantwortung gezogen wird. Dass ein derartiger Anschlag zu einem mehrstündigen Zwangsaufenthalt der Fahrgäste im Zug, und für diese zu chaotischen, teilweise entwürdigenden Zuständen führt, ist allerdings absolut inakzeptabel.
Hier ist zunächst die im SWR-Aktuell-Medienbericht dargestellte Verlautbarung der Bahn deutlich zu kritisieren, dass nämlich aus Sicherheitsgründen keine schnellere Lösung möglich gewesen sei:
(Hinweis: falls dieser Bericht nicht mehr Online zur Verügung steht, HIER als PDF)
- Laut Medienbericht sei der Notfallmanager erst 50 Minuten nach Alarmierung am Unfallort eingetroffen.
Warum wird der Notfallmanager nicht mit Sondersignal z. B. durch die Bundespolizei zum Notfallort gebracht? Andernfalls hat er in den meisten Fällen keine Chance, die im Regelwerk vorgesehene Ankunftszeit von 30 Minuten einhalten zu können. Auch die Feuerwehr fährt mit Sondersignal zum Einsatzort auch in Fällen, in denen sie nicht weiß, ob sie einen tatsächlichen Notfall antreffen wird. Übrigens ist eine Frist von 30 Minuten fast unerträglich lange, wenn es sich tatsächlich um eine Notsituation handelt. - Ist es denn wirklich so, dass vor dem Eintreffen des Notfallmanagers und dessen Diagnose zum weiteren Vorgehen so gut wie gar nichts geschehen kann?
Wenn der Triebfahrzeugführer in einer solchen Situation zum Schluss kommt, dass der Zug, wie am 11.10. geschehen, nicht weiterfahren darf, ist von einer länger dauernden Hilfsaktion durch technisches Personal oder einer länger dauernden Bergung und/oder Unfallaufnahme auszugehen. Damit ist die Notwendigkeit einer Evakuierung im Grundsatz schon gegeben und diese kann vorbereitet werden.
Besondere Lebensgefahr bestand insofern nicht, als die Oberleitung erkennbar unbeschädigt und der Zug im Gleis geblieben war. Es war im vorliegenden Fall auch schnell bekannt, dass der Unfallort eine Evakuierung der Fahrgäste über Wege und Straßen kaum möglich machte.
Für die Evakuierung kam daher nur ein auf dem Gegengleis herbeigeführter Zug in Betracht, den man einschließlich Fahrer natürlich nicht herbeizaubern kann. Eigentlich kommt in solchen Fällen nur ein in der Nähe im Umlauf befindlicher Zug infrage, hier wäre es z. B. der nachfolgende Zug der S4 gewesen, dessen Weiterfahrt ab Ludwigsburg durch die Störung ja ohnehin blockiert war.
Angesichts dessen muss eine Evakuierung niemals so lange wie am 11.10. bis spät in der Nacht dauern und darf dies auch nicht.
Dass es bei der Evakuierung liegengebliebener Züge offensichtlich Probleme geben kann, wissen wir längst. Wir haben fast genau vor vier Jahren über einen Evakuierungsfall vom 28.09.2019 berichtet, bei dem ein S-Bahnzug auf dem Weg nach Bad Cannstatt nach seinem Start in Hauptbahnhof (tief) auf der Ausfahrrampe stehen blieb und nicht mehr weiterfahren konnte. Vor vier Jahren haben wir folgende Meinung vertreten:
„Die Geschehnisse vom Ende her betrachtend kommt man zu der Frage, welche Aufenthaltszeit man den Fahrgästen in einem liegen gebliebenen Zug denn zumuten kann. Im vorliegenden Fall wären es rund eineinhalb Stunden gewesen und vermutlich war bis kurz vor deren Ablauf unklar, wie lange der Stillstand noch dauern würde.
Das ist eindeutig zu lange, überhaupt wenn eine große Menge Fahrgäste im Zug ausharren muss. Da geht es nicht nur um den Ärger einiger Leute, sondern um konkrete Probleme, wenn dringende körperliche Bedürfnisse zum Aufsuchen einer Toilette oder bei entsprechend veranlagten Menschen wegen dieser „Zwangseinschließung“ im Zug panikartige Angstzustände entstehen. Vermutlich wäre im vorliegenden Fall eine reguläre Evakuierung eingeleitet worden, wenn die reale Dauer absehbar gewesen wäre.
Da die Zeitdauer aber meist nicht klar absehbar ist, kann die Lösung bei vergleichbaren Fällen vermutlich nur sein, ein Zeitlimit für die Mangelbehebung zu setzen, dessen Überschreitung prinzipiell eine Maßnahmenkette zur möglichst schnellen, aber geordneten und sicheren Evakuierung auslöst. Wie dieses Zeitlimit gehandhabt wird, hängt sicherlich auch davon ab, wie voll der liegen gebliebene Zug ist oder mit welchen Leuten im Zug zu rechnen ist. … Es kann durchaus sein, dass die Bahn ein derartiges Ablaufszenario schon zur Ausführung bereitliegen hat. Dass sie dies nicht veröffentlicht, wäre verständlich und vernünftig. Es liegt aber trotzdem nahe, festgelegte Abläufe nochmals zu überprüfen, ob und wo sie gegebenenfalls anzupassen sind. Denn den vorliegenden Vorfall konnten sie schließlich nicht verhindern.“
Heute stellen wir fest, dass wir die Aussagen von damals eigentlich unverändert wiederholen müssen. Im jetzt betrachteten Fall vom 11.10.2023 kam es mit einer „Zwangseinschließung“ der Fahrgäste von 2,5 – 3 Stunden sogar noch ganz erheblich schlimmer. Fazit ist erneut, dass das Evakuierungs-Regelwerk auf solche Fälle nicht gut vorbereitet zu sein scheint. Entschuldigungen der Bahn, so aufrichtig und gut gemeint sie auch sein mögen, reichen nicht mehr aus.
Wir werden nachdrücklich versuchen, in dieses Regelwerk Einblick zu bekommen.