Am Samstag, 28.09.2019, dem ersten Volksfestsamstag des Jahres 2019, kam um ca. 14:07 Uhr ein S-Bahnzug der Linie S2 nach Schorndorf nach seiner Abfahrt in der S-Bahnstation Stuttgart Hbf (tief) auf der Ausfahrrampe aus dem Tunnel zum Halten, der vordere Teil des Zuges schon im Freien, der hintere noch im Tunnel. Offenbar hat es einen technischen Fehler im Kupplungssystem gegeben, und bei einem solchen sorgt in der Regel schon die Sicherungstechnik dafür, dass der Zug zwangsweise angehalten wird. Der Triebwagenführer bemühte sich natürlich sofort um die Auffindung und Behebung des Fehlers und versuchte den Zug erneut zu starten, was ihm aber nicht gelang. Per Durchsage informierte er die Fahrgäste mehrfach und teilte ihnen mit, dass sie ruhig bleiben sollten, da keinerlei Gefahr für sie bestünde und versuchte weiterhin, selbst bzw. zusammen mit der Einsatzleitung bahnintern eine Lösung zu finden.
Als es noch immer nicht weiter ging, rief ein Fahrgast ca. um 14:27 Uhr über die Notrufnummer die Polizei an. Anscheinend war die Luft in dem gut besetzten Zug etwas stickig geworden. Dass laut Angabe eines Fahrgastes auch noch ein oder mehrere Fahrgäste zu rauchen begannen, tat dazu ein Übriges. Die Bundespolizei war bis zu dem Anruf des Fahrgastes über den Vorfall anscheinend noch nicht informiert. Sie warnte die Fahrgäste dann aber pflichtgemäß vor dem Ausstieg auf freier Strecke, weil dies natürlich mit Lebensgefahr verbunden ist. Denn auf dem unmittelbar daneben liegenden Gleis fuhren noch S-Bahnzüge in entgegengesetzter Richtung zum Hauptbahnhof.
Schließlich war auch der Notfallmanager der Bahn im liegen gebliebenen S-Bahnzug eingetroffen und bat per Durchsage ebenfalls um Geduld. Als nach etwa einer Dreiviertelstunde – die Stuttgarter Zeitung schrieb von einer Stunde – für die Fahrgäste noch immer keine Lösung in Sicht war, war bei einigen die Geduld zu Ende: sie betätigten die Notentriegelung der Türen, öffneten diese und sprangen ins Freie. Jetzt wurde die Situation zum tatsächlichen Notfall. Bahner und Polizei reagierten richtig, sorgten für eine sofortige Einstellung des kompletten Zugverkehrs im Hauptbahnhof Stuttart (S-Bahn und Kopfbahnhof) und versuchten, die erzwungene Evakuierung einigermaßen geordnet abzuwickeln. Wenn ich eine weitere Meldung in der Presse richtig in Erinnerung habe, konnte der Zug ca. um 15:35 Uhr wieder fahren.
Weil es zunächst unklar war, wo genau die Ursache für den ungewollten Stilstand des Zuges lag, hätten womöglich Teile der Streckeneinrichtung oder die Außenhaut des Zuges Hochspannung (16.000 Volt) führen können. Wer das Nebengleis betrat, musste gewärtigen, von einem Gegenzug erfasst und überrollt zu werden. Außerhalb des Zuges bestand also Lebensgefahr. So gesehen war es ohne Frage verantwortungslos – und ist zu Recht auch strafbar -, wenn Fahrgäste eigenmächtig die Türentriegelung betätigt und den Zug unbeaufsichtigt verlassen haben, denn ein erkennbarer Notfall im Zug lag ja gar nicht vor. Es lässt sich wohl nicht mehr eindeutig ermitteln, was letztlich die unbedachte Handlung eines oder einiger Fahrgäste ausgelöst hat.
Aber die Sache rät vor allem zur Überlegung, was man auf Seiten der Bahn und der Polizei in Zukunft tun kann, eine derartige Reaktion der Fahrgäste zu vermeiden und vielleicht auch effektiver zu handeln. Nach allem was wir wissen, findet diese Überlegung bei DB Regio S-Bahn anlässlich dieses Vorfalls auch statt. Die Geschehnisse vom Ende her betrachtend kommt man zu der Frage, welche Aufenthaltszeit man den Fahrgästen in einem liegen gebliebenen Zug denn zumuten kann. Im vorliegenden Fall wären es rund eineinhalb Stunden gewesen und vermutlich war bis kurz vor deren Ablauf unklar, wie lange der Stillstand noch dauern würde.
Das ist eindeutig zu lange, überhaupt wenn eine große Menge Fahrgäste im Zug ausharren muss. Da geht es nicht nur um den Ärger einiger Leute, sondern um konkrete Probleme, wenn dringende körperliche Bedürfnisse zum Aufsuchen einer Toilette oder bei entsprechend veranlagten Menschen wegen dieser „Zwangseinschließung“ im Zug panikartige Angstzustände entstehen. Vermutlich wäre im vorliegenden Fall eine reguläre Evakuierung eingeleitet worden, wenn die reale Dauer absehbar gewesen wäre.
Da die Zeitdauer aber meist nicht klar absehbar ist, kann die Lösung bei vergleichbaren Fällen vermutlich nur sein, ein Zeitlimit für die Mangelbehebung zu setzen, dessen Überschreitung prinzipiell eine Maßnahmenkette zur möglichst schnellen, aber geordneten und sicheren Evakuierung auslöst. Wie dieses Zeitlimit gehandhabt wird, hängt sicherlich auch davon ab, wie voll der liegen gebliebene Zug ist oder mit welchen Leuten im Zug zu rechnen ist. So wäre, leider muss man sagen, angeraten, z. B. bei Volksfestbesuchern oder Fußballfans mit nur begrenzter Disziplin zu rechnen. Es kann durchaus sein, dass die Bahn ein derartiges Ablaufszenario schon zur Ausführung bereit liegen hat. Dass sie dies nicht veröffentlicht, wäre verständlich und vernünftig. Es liegt aber trotzdem nahe, festgelegte Abläufe nochmals zu überprüfen, ob und wo sie gegebenenfalls anzupassen sind. Denn den vorliegenden Vorfall konnten sie schließlich nicht verhindern.
Um aber jeglicher Fehlinterpretation vorzubeugen, hier nochmals der deutliche Hinweis an die S-Bahnbenutzer:
Wenn im Zug keine Gefahr für Leben oder Gesundheit vorliegt, ist es grundsätzlich nicht zu verantworten, dass Fahrgäste die Türen eines liegen gebliebenen Zuges entriegeln und ihn irgendwo auf der Strecke einfach verlassen.
Wenn die Fahrgäste über eventuelle Evakuierungsmaßnahmen durch Bahn und Polizei verständlich informiert und nicht über Gebühr lange im Zug festgehalten werden, dürfte dies auch kaum erforderlich sein. Wenn es dennoch voreilige oder uneinsichtige Nachahmer geben sollte, ist denen zu wünschen, dass sie von Polizei und Justiz mit spürbaren Sanktionen für ihr Fehlverhalten bedient werden.