Nachlese zu den Stammstreckensperrungen mit Nutzung der Panoramastrecke

Der Verkehrsausschuss des Verbands Region Stuttgart hat sich in seiner Sitzung am Mittwoch, 18.1.2023 im Tagesordnungspunkt 3 erneut mit den Vollsperrungen der S-Bahn-Stammstrecke in den Sommerferien 2021-2024 befasst.

Die vollständige Presseinformation des Verbands Region Stuttgart mit Stellungnahmen der Fraktionen: Bahn gibt Ursache für Radabnutzung bei S-Bahn bekannt

Im Tagesordnungspunkt 3 gab es einen ausführlichen (Folien-) Vortrag von DB Netze und DB Regio S-Bahn-Stuttgart. Die gezeigten Folien können Sie im Rats- und Bürgerinformationssystem des Verbands Region Stuttgart anschauen und herunterladen: Stammstreckensperrung_2022

Ein Bericht von Chr. Milankovic, StZ/StN über die teilweise turbulente Sitzung in den StN:
Schlagabtausch wegen wochenlanger S-Bahn-Sperrung


Wir erinnern uns an die Stammstreckensperrung (Stuttgart-Hbf(tief) – Schwabstraße bzw. Vaihingen) während der Sommerferien 2021: die Umleitung der S-Bahnen über Hbf (oben) und die Panoramastrecke gemäß dem vorgesehenen Bauzeitfahrplan musste etwa nach der Hälfte der Zeit abgebrochen werden, weil die Räder der S-Bahn-Fahrzeuge überraschenderweise schlapp machten. In der Not wurde schnellstmöglich zwischen Stuttgart Hbf (oben) und Stuttgart-Vaihingen ein halbstündlicher Pendelverkehr mit Doppelstockwagen eingerichtet und der Busersatzverkehr erweitert.

Anlass für den Abbruch war eine erhöhte Radabnutzung der S-Bahnzüge teilweise bis über die Verschleißgrenze hinaus. Als Ursache hierfür wurde 2021 der unzureichende Schmierzustand von Schienen und Rädern ermittelt. Wochenlange Zugausfälle auch noch nach der Wiederinbetriebnahme der Stammstrecke waren die Folge, weil zuerst neue Räder beschafft werden mussten, wenn sie nicht mehr durch Abdrehen reprofiliert werden konnten.

Der Schmierzustand von Rädern und Schienen wurde anschließend verbessert, denn wer kennt nicht den altbekannten Spruch der KfZ-Werkstätten »Schmieren und Salben hilft allenthalben«? Nach Probefahrten und regelmäßigen Überprüfungen hörte man von DB Regio S-Bahn-Stuttgart, man sei auf dem richtigen Weg und müsse während der Stammstreckensperrung 2022 keine derartigen Ausfälle mehr befürchten.

Doch kurz nach Beginn der Sperrung Ende Juli erwies sich dies als fataler Irrtum: erneut stellte sich zu hohe Radabnutzung der S-Bahnzüge ein und wieder musste deren Umleitung über die Panoramastrecke eingestellt und durch pendelnde Doppelstockzüge ersetzt werden.

Ein altes Sprichwort lautet »wo gehobelt wird, fallen Späne«,  das soll heißen: Reibung erzeugt Abrieb und irgendwann ist die Verschleißgrenze erreicht, und zwar um so schneller, je stärker die Reibung ist und wie oft sie vorkommt. Die Reibung ist natürlich besonders hoch in engen Kurven wie sie auf der Panoramastrecke vorkommen. Die nachfolgende ziemlich überzogene Skizze aus dem Folienvortrag beschreibt recht anschaulich, was in den Kurven mit Rädern und Schienen passiert.

Erhöhter Verschleiß von Rädern und Schienne bei Kurvenfahrt

Erhöhter Verschleiß von Rädern und Schienen bei Kurvenfahrt durch erhöhten Spurkranzkontakt

Die Untersuchungen der DB (Anm. in 2022) sind zum Schluss gekommen, dass die Schienen auf der Panoramabahn in ihrem Schienenkopfprofil typische abnutzungsbedingte Veränderungen aufweisen. Diese liegen zwar innerhalb der einschlägigen Normen und Richtlinien, können aber in engen Gleisbögen bei intensiver Befahrung zu einer erhöhten Abnutzung der S-Bahnräder führen. „Fahrzeuge, Gleistopografie mit engen Bögen und Belastung der Strecke haben letztendlich zu der besonderen Situation geführt“.

Das Maß war endgültig voll, als wenige Tage später auch noch der S-Bahn-Pendelverkehr auf der der bis dato unauffälligen eingleisigen Filderstrecke zwischen Flughafen und Filderstadt-Bernhausen komplett eingestellt und durch einen Busersatzverkehr ersetzt werden musste. Als zusätzliche Ursache für den sehr starken Verschleiß der Räder wurde hier die Häufigkeit der Befahrung genannt: Die gleichen Fahrzeuge befuhren im Kurzpendel Bernhausen–Vaihingen die kritischen Streckenabschnitte etwa viermal so oft als sie es bei Fahrten auf der ganzen Strecke Bernhausen-Schorndorf tun.

Allerdings ist uns nicht bekannt, ob nach dem Fiasko 2021 auch die Filderstrecke in die Untersuchungen eingeschlossen wurde, denn dort wurde unseres Wissens keine Verbesserung der Gleisschmierung vorgenommen.

Dass die Panoramastrecke reparaturbedürftig ist, konnte ich selbst während meiner Fahrten an mehrfach hintereinander auftretenden Horizontalbeschleunigungen (Schlägen) erkennen und zwar sowohl bei der Fahrt mit Fernverkehrszügen als auch mit Nahverkehrszügen und S-Bahnen. Heute spricht die DB Netz AG von „erschöpftem Abnutzungsvorrat“ der Schienen. Das noch vorhandene Schienenprofil lässt kein Schleifen oder Nachbearbeiten mehr zu.

Auf der Panoramastrecke müssten demnach zwangsläufig 5 km Gleise,  auf den Fildern 1,5 km Gleise ausgewechselt werden.

Der Wechsel der Gleise auf der Filderstrecke sei laut Aussage der DB noch bis zum Sommer 2023, also bis zum Beginn der Stammstreckensperrung  in den Sommerferien (29.07.2023-01:30 Uhr bis 11.09.2023 04:00 Uhr) möglich und könne aufgrund der geringeren Mengen ohne Ausschreibung mittels Instandhaltungsbugdet erfolgen. Durch den S-Bahn-Regelbetrieb sei auch die notwendige Einschwingphase (=Einfahren) gut umsetzbar.  Zusätzlich wird der Einbau von weiteren Schienenschmieranlagen geprüft, in jedem Fall wird eine manuelle Schmierung durchgeführt.

Für die Umsetzung auf der Panoramastrecke reiche es wegen Ausschreibungs- und Materialbestellfristen bis dahin leider nicht mehr.  Zudem sei nach dem Schienenwechsel eine Einschwingphase von 2-3 Monaten mit S-Bahnfahrzeugen notwendig. Der Fokus läge daher auf ein ausreichendes und regelmäßiges Schmieren der Schienenflanken. 

Die DB hat zugesagt, dass nach den Ferien 2023 mit den erforderlichen Maßnahmen zum Schienenwechsel begonnen wird, so dass sichergestellt sei, dass zumindest während den Stammstreckensperrungen 2024ff die S-Bahnen wieder über die Panoramastrecke umgeleitet werden können.

Die Konsequenz ist, dass während der gesamten 6 Wochen der Stammstreckensperrung 2023 die S-Bahnlinien in Vaihingen und auf der anderen Seite im Hauptbahnhof oben unterbrochen werden und nicht über die Panoramastrecke fahren sollen. Dort sollen im aus den beiden Vorjahren bekannten Muster halbstündlich Doppelstockzüge pendeln.

DB-Folie 23 erklärt die resultierenden Konsequenzen für die Stammstreckensperrung 2023:

Weitere Vorgehensweise (noch in Erarbeitung):

  • Vsl. Dosto-Pendel (30 Min.-Takt) zwischen S-Hbf und S-Vaihingen (noch in Klärung, ob Fahrzeuge, Tf und IH-Kapazitäten zur Verfügung stehen).

  • Pendel (30 Min.-Takt) mit S-Bahn-Fahrzeugen zwischen S-Vaihingen und Filderstadt

  • Angepasstes Bus-Konzept mit Expressbus zwischen Stuttgart Hbf und S-VaihingenAbstimmung mit Verbundpartnern (Land, SSB und VVS)

Für die Bahnfahrer sind solche unklaren Aussichten namentlich für die Verbindung Vaihingen – Hauptbahnhof nicht zumutbar. Es muss schnellstens Klarheit geschaffen werden.

Hätte man die „Pleite“ in 2021 richtig eingeschätzt und mit der Einschaltung verschiedener Gutachter und der Schaffung eines ‚digitalen Zwillings‘ so umfangreiche Ursachenforschung wie jetzt betrieben, hätte man die Stammstreckensperrung 2022 vermutlich ohne unangenehme Begleiterscheinungen über die Bühne gebracht. Mehr als zu hoffen, dass dies 2023 gelingt, getrauen wir uns nach aller Erfahrung noch nicht.

Und diese ganze Geschichte gibt Anlass, einige Fragen – teilweise zum wiederholten Mal – zu formulieren:

  • Müssen wir angesichts der aufgetretenen Probleme generell an der Qualität der Radsätze der S-Bahnzüge der neuesten Baureihe 430 zweifeln?
  • Müssen wir womöglich auch an der Qualität neu gelieferter Schienen zweifeln, nach dem auf der Badischen Schwarzwaldbahn nach Austausch der Schienen die gleichen oder zumindest ähnliche Probleme aufgetreten sind?
  • Wurden auf der Filderstrecke Betonschwellen einer bestimmten Bauart eingebaut, die jetzt ersetzt werden müssen?
  • Ist auf Grund der Probleme der dauerhafte Weiterbetrieb der Gäubahn-Panoramastrecke in Frage gestellt?

Derzeit pfeifen es schon die Spatzen von den Dächern, dass die politisch gewollte Anbindung der Gäubahn an den Flughafen erst 7 bis 10 Jahre nach Betriebsaufnahme von S21 kommen kann. Dennoch scheint man insbesondere Argumente dafür zu sammeln, wie leicht man doch mit einem in Vaihingen oder an einem aus heutiger Sicht quasi auf freier Strecke befindlichen „Nordhalt“ gekappten Gäubahnbetrieb auskommen könnte. Die im sogenannten Faktencheck Gäubahn am 25.11.2022 gehaltenen Vorträge konzentrieren sich weithin auf die Argumentation, warum selbst auch eine interimsweise Beibehaltung der Gäubahnführung bis zum Hauptbahnhof über 2025 hinaus nicht gehe, nicht sinnvoll oder viel zu teuer sei.

Wir sind sicher, dass die Panoramastrecke für notwendige S-Bahnumleitungen zwingend gebraucht wird, und dies ganz besonders dann, wenn das Vorhaben Pfaffensteigtunnel realisiert werden sollte. Eine Umfahrung der gesperrten Stammstrecke etwa durch den S21-Tiefbahnhof und den Filderaufstiegstunnel würde erfordern, dass von der Nordostseite auf das Stadtzentrum zufahrende S-Bahnzüge von Ludwigsburg bzw. Leonberg kommend bereits in Zuffenhausen, von Waiblingen kommend bereits in Fellbach und von Plochingen kommend bereits in Mettingen auf das Regional- und Ferngleis überwechseln müssten. Auf südlicher Seite würden die S-Bahnzüge erst in Böblingen-Goldberg wieder auf ihre reguläre Route nach Böblingen gelangen, Filderstadt und Neuhausen wären gar nicht mehr erreichbar. Uns ist bisher nichts bekannt, dass zu einer Abmilderung dieser Probleme irgendwelche neuen Gleisüberleitungen geplant wären. Doch auch das kann wohl kaum eine die Lösung sein, zumal für die DB AG zusätzliche neue Weichen und Ausweichgleise auf Bestandstrecken ein rotes Tuch zu sein scheinen wie man immer wieder auch auf anderen Mischverkehrsstrecken feststellen kann.

Also muss die Panoramastrecke leistungsfähig erhalten bleiben. Zumindest für den Abschnitt Vaihingen – Abzweigung Feuerbach besteht darüber schon heute weitgehend Konsens. Wir möchten in diesem Kontext auf den Beitrag →Die Bedeutung der Panoramastrecke für die S-Bahn aus den Anfangszeiten dieses Portals verweisen. 

Damit  aber für diesen Abschnitt eine Unterbrechung der Betriebsfähigkeit vermieden werden kann, muss für ihn schnellstmöglich ein nahtloser Übergang zum zukünftigen Eisenbahninfrastrukturbetreiber vorbereitet werden. Die beste Lösung wäre, dass dieser Streckenabschnitt von der DB Netz AG weiterbetrieben wird, dieser aber dazu auf einen so guten Zustand gebracht wird, der dem anspruchsvollen Verkehr im Bahnknoten Stuttgart auch angemessen ist.

Ein Gedanke zu „Nachlese zu den Stammstreckensperrungen mit Nutzung der Panoramastrecke

  1. harald

    Nach Durchsicht der 24 Folien die am 18.1.23 seitens der DB gezeigt wurden, sucht man vergeblich nach neuen Erkenntnissen zum Rad-Schiene Kontakt.
    Die Tribo-Systen Rad-Schiene ist seit Jahrzehnten erforscht und die Problematik enge Gleisbögen ebenfalls.
    Das was bezüglich der Panoramastrecke von DB-Netz / RöschConsult präsentiert wurde erfüllt nicht den Anspruch einer fundierten tribologischen Systemanalyse. Man findet z.B. keine Angabe ob und seit wann eine Schmierung verwendet wurde, ob das Schmiersystem regelmäßig geprüft wurde, wie die Prüfintervalle ausschauen, ob es in den letzten Jahren eine Änderung des Schmierstoffes gab uvm.

    Dem Schmierstoff als Kontruktionselement kommt bekanntermaßen eine entscheidende Bedeutung bei dem Verschleißverhalten zu, und er kann das Verschleißverhalten um eine Größenordnung verbessern.

    In dem vorliegenden Folienbericht findet man nur rudimentäre Angaben zur Schmierung
    Folie 18
    zeigt durch die Aussage „Regelmäßige Überprüfung der Schmiertätigkeit“ dass diese Überprüfung erst jetzt erfolgt ist und die Jahre zuvor nicht.

    Die weiteren Aussagen
    Folie 19 Zitat
    „Zusätzlich wird der Einbau von weiteren Schienenschmieranlagen geprüft – in jedem Fall wird eine manuelle Schmierung durchgeführt“

    Folie 20 Zitat
    „Der Fokus liegt daher auf ein ausreichendes und regelmäßiges Schmieren der Schienenflanken“
    zeigen, dass man dem Potential Schmierstoff nur unzureichend Rechnung getragen hat.

    Die Misere Ausfall der Panoramastrecke über einen langen Zeitraum wäre vermutlich zu vermeiden gewesen, zumindest wäre man nicht überrascht / überrollt worden.

    Dass man (Folie 19) 1,5 km Schienen mittels Instandhaltungsbugdet tauschen kann und dass dies bei 5 km Schienen nicht möglich ist (Folie 20) verwundert einen sehr.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert