Was hat die S-Bahn von Stuttgart 21?

Bereits während der laufenden und noch lange dauernden Bauarbeiten für Stuttgart 21 wird die S-Bahn vielfach beeinflusst und gestört. Doch auch später im realen Betrieb wird es gravierende Auswirkungen geben.

Der neuen Führung der Zulaufstrecken zum S21-Tiefbahnhof geschuldet, braucht die S-Bahnstrecke Hauptbahnhof – Bad Cannstatt ebenfalls eine neue Streckenführung. Diese führt über die neue Station Mittnachtstraße, die von den dortigen Anwohnern und Berufstätigen und auch von den Umsteigern in der Relation Feuerbach – Bad Cannstatt u. u. sicherlich begrüßt wird. Durch die neue Regional- und Fernzuganbindung des Flughafens und der Messe werde die Stammstrecke um ca. 20% entlastet, lautet eine schon seit längerer Zeit kursierende Aussage u. a. auch des Verbands Region Stuttgart. Und schließlich werde der problematische Mischverkehr von S-Bahnzügen mit Regionalzügen im Streckenabschnitt Hauptbahnhof – Bad Cannstatt beseitigt.

Hier ist zu fragen, ob diese Argumente wirklich tragen, und auch, was sich die S-Bahn mit Stuttgart 21 an Nachteilen einhandelt.

Der Vorteil der Station Mittnachtstraße wird nicht verkannt, verkürzt sie doch die Reisezeit für viele Umsteiger und entlastet den stark frequentierten S-Bahn-Umsteigepunkt Hbf (tief). Aber die neue Station verschärft die Störungsrisiken auf der Stammstrecke zunächst allein schon durch deren Verlängerung, des Weiteren aber durch ihre sparsame Ausführung mit nur zwei Bahnsteiggleisen. Das Zusammenführen der aus Feuerbach mit den aus Bad Cannstatt kommenden Zügen verursacht einen zeitaufwändigen und dadurch störungsträchtigen Einfädelungsprozess, der keineswegs weniger aufwändig sein wird als die heutige Einfädelung vor der S-Bahnstation Hbf (tief).

Wenn die zusätzliche Schienenanbindung des Flughafens eine Entlastung der Stammstrecke bringt, müssten doch weit überwiegend die Linien S2 und S3 entlastet werden. Diese beiden Linien bestreiten heute – ganz grob nach der Anzahl Züge gerechnet — etwa 30% des gesamten Verkehrs auf der Stammstrecke. Da müsste sich eine Einsparung von 20% spektakulär auswirken. So entsteht nahezu zwangsläufig die Frage, ob man dann eine dieser beiden Linien auf dem Weg zum Flughafen nicht einfach abschaffen sollte. Natürlich wird man dies nicht können angesichts der ganzen Anstrengungen, mehr Fahrgäste auf die Schiene zu bringen, die diese fiktive Einsparung in kürzester Frist mit Zuwächsen überkompensieren werden. Für die 20%-Reduzierung sind uns auch keine veröffentlichten belastbaren Zahlen bekannt, obwohl nicht verkannt wird, dass die direkte Regionalzuganbindung vom Umland zum Flughafen zu einer Verminderung der Fluggäste, die heute in Stuttgart Hbf (tief) umsteigen, führen wird.

Der Entfall des Mischverkehrs zwischen Bad Cannstatt und Stuttgart, bei dem sich pro Stunde und Richtung im Höchstfall während zwei Stunden werktags 4 Regionalzüge zwischen 12 S-Bahnzüge einfädeln müssen, ist sicherlich zu begrüßen. Aber so sehr problematisch, wie weithin dargestellt, ist er gar nicht. S-Bahnen und Regionalzüge müssen sich einen Streckenabschnitt von ca. 2.600 Metern teilen, auf dem es keine Zwischenhalte und keinerlei Kreuzung mit dem Gegenverkehr gibt. An beiden Enden gibt es für den planmäßigen Halt wenigstens 2 Gleise (Bad Cannstatt) oder erheblich mehr (Hauptbahnhof oben). Dieser Mischverkehr war und ist durchaus beherrschbar. Im nachfolgenden Streckenabschnitt Bad Cannstatt – Esslingen – Plochingen mit 4 S-Bahnzügen pro Stunde und Richtung bereitet es derzeit kaum Probleme, pro Stunde einen bis im Höchstfall drei Regionalzüge zwischen die in kontinuierlichem 15-Minutentakt fahrenden Züge der S1 zu platzieren.

S-Bahn im Mischverkehr mit Regional- und Fernzügen und teilweise Güterzügen

S-Bahn im Mischverkehr mit Regional- und Fernzügen

Dafür plant Stuttgart 21 auf der Filderbahn zwischen Rohr und Flughafen-Terminalbahnhof neuen und vermutlich viel problematischeren Mischverkehr, wenn dort zukünftig S-Bahn-, Regional- und Fernzüge gemeinsam fahren sollen. Durch den starken S-Bahnverkehr zwischen Herrenberg / Böblingen und Rohr stehen den Regional- und Fernzügen dort pro Stunde und Richtung genau 4 enge Zeitkorridore (Korridorbreite ca. 3 Minuten) für ihre Fahrlagen zur Verfügung. Die Züge würden also zu quasi fixierten Zeiten an der Rohrer Kurve eintreffen und müssen von dort an zwischen die S-Bahnzüge der S2 und S3 einreihen. Diese müssen im diskontinuierlichen 10-/20-Minutentakt fahren und haben auf dem Weg zum Flughafen drei Zwischenhalte. Angesichts der regelmäßigen Überfüllung der Linien S2 und S3 auf den Fildern müsste dieser Takt eigentlich schon lange auf einen 5-/10-/5-/10-Minuten Takt verdichtet werden, wie er ja schon in Richtung Waiblingen und Ludwigsburg in der Hauptverkehrszeit gefahren wird.

Fern- und Regionalzüge von Böblingen / Rohr kommend müssen sich an der Einfahrt zum Flughafen-Terminalbahnhof mit den entgegenkommenden S-Bahnzügen kreuzen. Überdies steht für Regional- und Fernzüge nur ein einziges Haltegleis mit Bahnsteig für beide Fahrtrichtungen zur Verfügung. Bei näherem Hinsehen zeigt sich: wenn der jetzige S-Bahntakt bestehen bleiben soll, werden von den vier Zeitkorridoren für Gäubahnzüge in beiden Richtungen nur jeweils zwei einigermaßen störungsfrei nutzbar sein. Das bedeutet pro Stunde und Richtung maximal zwei Gäubahnzüge, obwohl heute schon morgens zwischen 7 und 8 Uhr ein dritter Zug fährt.

Wollte man es beibehalten, bei Großmessen tagsüber die S3 zwischen Vaihingen und Flughafen wie heute zeitweise auf 15-Minutentakt zu verdichten, könnten in dieser Zeit überhaupt keine Regional- oder Fernzüge der Gäubahn fahren. Gäubahnzüge auf der Filderbahn bedeuten also, dass die S-Bahn dort für immer auf das heutige Standardangebot begrenzt bliebe.

Stuttgart 21 meint auch, die Panoramastrecke der Gäubahn nicht mehr zu brauchen und will sie fallen lassen. Damit würde der S-Bahn ein quasi lebenswichtiges „Schlupfloch“ genommen, wenn es zu den leider häufigen Sperrungen der Stammstrecke kommt. Die Möglichkeit, zukünftig dort regelmäßig entlastende S-Bahn- oder Regionalzüge fahren zu lassen, wäre für immer verbaut.
Auch wenn die vollständige Kappung der Panoramabahn (die Verbindung nach Feuerbach soll im Gegensatz zur Verbindung zum Hauptbahnhof erhalten bleiben) wohl kein Thema mehr ist, muss zumindest im Notfall, d.h. Sperrung der Stammstrecke, ein – auch beim Verband-Region-Stuttgart unbeliebter – Linientausch gemacht werden. Aber auch dann ist die Stuttgarter City nicht mehr direkt mit der S-Bahn zu erreichen, sondern die Fahrgäste müssen bereits in Außenbezirken (z.B. Bad Cannstatt, Feuerbach, Vaihingen) auf andere Verkehrsmittel umsteigen.

Leider muss man folgern:
Wenn wenigen Vorteilen so gravierende Nachteile gegenüberstehen, ist der Nutzen von Stuttgart 21 für die S-Bahn per Saldo deutlich negativ.

7 Gedanken zu „Was hat die S-Bahn von Stuttgart 21?

  1. Erich

    Die 20% sind ja wohl eher auf die gesamte S-Bahn gemünzt. Heute ist es meistens schneller z.B. zwischen Ludwigsburg und Böblingen die S-Bahn zu nehmen, als mit unattraktiven Umstiegen am HBF die Regionalzüge, die aber erst an den Endpunkten der S-Bahn ihre maximale Auslastung erreichen. Kapazität wäre also gratis vorhanden und wird wohl auch genutzt werden.

    Der Filder-Abschnitt ist klar schwach dimensioniert und wird dies wohl leider die nächsten Jahrzehnte auch bleiben. Die Studie zur Gäubahn hat aber die prinzipielle Fahrbarkeit bestätigt. Mit den neuen ETCS/DSTW-Projekt soll ja die Zugfolgezeit auch in diesen Bereich nochmals schrumpfen, auch wenn dies eher ein Tropfen auf den heißen Stein ist.

    Wieso aber zu den Messen weiterhin zusätzliche S-Bahnen fahren sollen erschließt sich mir nicht. Wer fährt schon mit der S-Bahn durch die Pampa, wenn er auch die 5-6 Regionalzüge pro Stunde nutzen kann? Und dazu auch noch die U6?

    Für die S-Bahn ist ja im Störungsfall eine teilweise Einleitung in den S21-Tiefbahnhof geplant. Nach den im Deutschland-Takt geplanten Abfahrtszeiten ist dies auch von der Bahnsteigkapazität her möglich. Die Innenstadt wird also im Störungsfall ähnlich wie heute erreichbar sein.

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    1. Ulli Fetzer

      Die 20% des VRS beziehen sich auf die Entlastung der Stammstrecke und insbesondere der Station Hbf(tief). Dafür sind nach Ansicht des VRS 2 Effekte maßgebend:
      1. Verlagerung der Umsteiger S1-S3 ↔ S4-S6(0) von Hbf(tief) an die neue Station Mittnachtstraße
      2. Fahrgäste aus dem Umland (Heilbronn, Ludwigsburg, Backnang, Schorndorf,… zum/vom Flughafen, die dann verstärkt mit dem Regionalzug fahren werden.
      Beide Effekte sind sicher vorhanden, ob sie 20% ausmachen, ist allerdings die Frage.

      Der neue Tiefbahnhof wird dank der gegenüber dem Kopfbahnhof sowieso verminderten Leistungsfähigkeit nicht in der Lage sein, auch noch S-Bahnen aufzunehmen. Und der Deutschlandtakt ist im Tiefbahnhof nicht realisierbar, dazu reichen 8 Gleise bei weitem nicht, wobei 2*3 davon jeweils Richtungsgleise sind.

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    2. Hosea Winter Beitragsautor

      Ich denke nicht, dass die U6 und die Regionalzüge, von denen es
      womöglich weniger, als 5-6 pro Stunde geben wird, eine wirklich große
      Entlastung für die S-Bahn ist, da Fahrgäste aus der Stadtmitte wohl
      nicht erst zum Hauptbahnhof fahren werden.
      Und die meisten wollen wohl nicht in Stuttgart-Flughafen aussteigen, sondern in den bervölkerungsstarken
      Städten Filderstadt, Leinfelden und Echterdingen, von denen es auch im
      Gegensatz zum Flughafen, wichtige Buslinien in alle Richtungen, z.B.
      nach Tübingen (826/828), nach Nürtingen und Degerloch (74,76), sowie
      in die ganze Filderregion (zukünftig Linien 81x) gibt.
      Und die U5, die ja als Kurzzug alle 20 Minuten auch nach Leinfelden fährt, verkehrt
      erfahrungsgemäß eher leer zwischen Leinfelden und Möhringen,
      wohingegen die S-Bahnen v.a. morgens aus allen Nähten platzen.

      Ob ECTS wirklich eine Kapazitätssteigerung bringt, ist ebenfalls umstritten
      (https://www.kontextwochenzeitung.de/wirtschaft/398/digitale-wundertuete-5468.html?pk_campaign=KONTEXT-per-EMail&pk_kwd=Ausgabe-398).

      Auf jeden Fall ist es unserer Meinung nach nicht das Allheilmittel
      gegen Überfüllung und Verspätungen.
      Und ob dann wirklich im Zweifelsfall alle relevanten S-Bahnen
      einigermaßen pünktlich über den neuen Hauptbahnhof umgeleitet werden
      können, ist auch fraglich.
      Der Deutschlandtakt ist in jedem Falle bei Stuttgart 21 deutlich
      problematischer, als mit dem Kopfbahnhof
      (https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/394/durch-s-21-aus-dem-takt-5406.html).

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    3. Klaus Wößner

      Die Formulierung, dass die 20% Entlastung der S-Bahn wohl eher auf die gesamte S-Bahn gemünzt seien, trifft die Realität genau. Man geht von einer Entlastung bzw. Verlagerung zwar aus, aber konkretere Daten hat man nicht. Jede Prognose ist also mit sehr hoher Unsicherheit behaftet.

      Ausreichende Kapazität in Regionalzügen wird während der morgendlichen Hauptverkehrszeit z. B. auf der Verbindung Hbf – Flughafen sicherlich vorhanden sein, denn dieser Weg führt gegen die Lastrichtung der Pendlerströme. Nachmittags sieht es dort aber anders aus, wenn die Pendlerströme in der Gegenrichtung fließen. Regionalzüge haben heute in der Hauptverkehrszeit in Lastrichtung ab und zum Hauptbahnhof in / aus so gut wie allen Richtungen kaum „Gratis-Kapazität“ zu bieten.

      Zweifellos wird für den Reisenden zum Flughafen, der mit dem Regionalzug am Hauptbahnhof eintrifft, der Umstieg dort in einen Regionalzug attraktiv sein, in manchen Fällen wird er sogar nicht einmal umsteigen müssen. Reisende, die irgendwo „in der Pampa“ in die S-Bahn einsteigen müssen, werden es aber — insbesondere mit Gepäck — weiterhin schätzen, irgendwo in der Stadt am S-Bahnsteig viel bequemer in eine andere S-Bahn umzusteigen, mit ihr etwas länger zu fahren und direkt im Terminalgebäude anzukommen. Man unterschätze es bitte nicht: die „Pampa“ ist Großstadt und deren Umland, wo es viele Ein-/Aussteiger zum / vom Flughafen gibt. Die U6 ist für Umsteiger am Hauptbahnhof nicht attraktiv, weil sie noch mehr als die S-Bahn „durch die Pampa“ fährt und auch länger braucht.

      Die technische Fahrbarkeit der Gäubahn über den Flughafen wird übrigens nicht bestritten. Aber wirklich konfliktfrei sind pro Stunde und Richtung nur zwei Regional- oder Fernzüge zwischen die S-Bahnen platzierbar und dies auch nur, weil es zwischen S2 und S3 pro Stunde zwei 20-Minuten-Lücken gibt. Und S-Bahnzüge im Störungsfall durch den S21-Tiefbahnhof zu führen ist, unabhängig vom Deutschlandtakt, konzeptionell zwar angedacht, aber weder klar noch bezüglich der Linienführung im Konsens.

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  2. Max

    Den Tunnelbahnhof und den Kopfbahnhof nur verkleinert da zu lassen und dort die Zwischentakte des zukünftigen ganztägen Verkehr der Nordlinien im Hbf Oben enden zu lassen, wäre ein Option um die Stammstrecke zu entlasten, zudem bliebe der Anschluss an die Gäubahn erhalten.

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    1. Hosea Winter Beitragsautor

      Das wäre natürlich besser und wurde ja auch in der Schlichtung zu S21 als Option S21 Plus herausgearbeitet.
      Dann wären aber nicht alle Flächen, um die es ja auch (oder sogar vor allem) bei Stuttgart 21 geht, nicht vollständig frei. Man hätte sich dann sicher auch den Tunnel zur Mittnachtstraße gespart…

      Nun muss die neue „Zwischenlinie“ von/nach Leonberg (geplant als S62), wenn sie je kommt, wohl in Feuerbach enden.

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