Eine S-Bahn nach Nürtingen oder ein 15-Minuten Takt auf der S1 Richtung Kirchheim(Teck)?

In einer im Januar bei einer Sitzung des Verkehrsausschusses des VRS vorgestellten Machbarkeitsstudie, die hier vollständig heruntergeladen werden kann, untersuchte das Verkehrswissenschaftliche Institut Stuttgart zusammen mit der DB Engineering & Consulting GmbH mögliche Erweiterungen und Kapazitätssteigerungen im Stuttgarter S-Bahn Netz.

Da im Kernnetz der S-Bahn Stuttgart schon ab Dezember 2020 Montag-Freitag durchgehend von 6:00 bis 20:30 Uhr ein 15-Minuten Takt gelten soll, der aufgrund fehlender Kapazitäten im Stammtunnel und auf den Zulaufstrecken nicht weiter verdichtet werden kann, konzentriert sich die Studie auf die Erweiterung von Teilstrecken in der Region Stuttgart, die derzeit nicht im 15-Minuten Takt befahren oder die ohne große bauliche Eingriffe, wie den Bau einer zweiten Stammstrecke o.ä., ausgebaut werden können.
Untersucht wurden unter anderem der Ausbau der Schusterbahn, eine Taktverdichtung auf der S4 zwischen Marbach und Backnang sowie eine Taktverdichtung auf der S60 zwischen Renningen und Böblingen. Auf allen genannten Abschnitten herrscht heute bestenfalls ein 30-Minuten Takt. Auf der Schusterbahn wird derzeit sogar nur in den Hauptverkehrszeiten und nur im Stundentakt gependelt.

Näher betrachtet wurde außerdem der Ausbau der S1 Richtung Kirchheim(Teck) oder gegebenenfalls nach Nürtingen. Die S1 kann derzeit nur zwischen Herrenberg/Böblingen und Plochingen alle 15 Minuten verkehren, auf dem weiteren Abschnitt über Wendlingen nach Kirchheim(Teck) ist nur ein 30-Minuten Takt möglich. Dies ist vor allem dem Mischverkehr auf der Neckar-Alb-Bahn und der Eingleisigkeit der Strecke von Wendlingen nach Kirchheim geschuldet.

Schematische Darstellung der Bahnstrecken in der Umgebung von Wendlingen

Da für einen 15-Minuten Takt zwischen Wendlingen und Kirchheim(Teck) der Bahnhof Ötlingen für gleichzeitige Einfahrten aus beiden Richtungen umzubauen wäre und die zusätzlichen Züge in Wendlingen zu langen Schließzeiten von Bahnübergängen führen würden, plädieren die Verfasser der Studie für eine Verlängerung der Zwischentakte bis Nürtingen.

Folgendes Stufenkonzept wird vorgestellt:

  • Stufe 1: Die Grundtakte der S1 verkehren wie gewohnt bis Kirchheim(Teck).
    Die Zwischentakte verkehren ab Plochingen weiter nach Wendlingen zu Gleis 3, das für die S-Bahn nutzbar gemacht werden müsste.
    Die derzeit bis Plochingen verkehrende Regionalbahn (Dieselzüge nach Tübingen/Herrenberg) würde dann in Wendlingen enden.
  • Stufe 2: Die Grundtakte der S1 verkehren wie gewohnt bis Kirchheim(Teck).
    Die Zwischentakte verkehren ab Plochingen weiter über Oberboihingen bis nach Nürtingen.
    In Nürtingen müsste das Gleis 3 für Doppelbelegungen nutzbar gemacht und erhöht werden. Eine Erneuerung von Gleis 3 in Wendlingen wäre hingegen nicht nötig.

Die Fahrzeit von Zwischentaktzüge von Plochingen nach Nürtingen würde dann genau 15 Minuten betragen und wäre gleich lang, wie die der Grundtaktzüge nach Kirchheim(Teck).

Das Konzept wirkt auf den ersten Blick schlüssig und einigermaßen schnell umsetzbar.
Allerdings entstehen beim näheren Hinsehen einige Probleme:

  • Außerhalb der Zeiten des 15-Minutentakts wäre Oberboihingen ohne eine zusätzliche Linie nicht ans Schienennetz angeschlossen.
  • In Nürtingen müsste neben dem Umbau des Gleis 3 auch ein Neubau einer Abstellanlage erfolgen.
  • Nach Inbetriebnahme von Stufe 2 ist der für Stufe 1 umgebaute Bahnsteig 3 in Wendlingen nicht mehr nötig und der Umbau längerfristig ‚für die Katz‘ gewesen.
  • Die zusätzlichen Züge auf der Neckar-Alb-Bahn stehen in Konkurrenz zum „Vorlaufbetrieb“ der Neubaustrecke, bei dem ein Teil der Fernzüge, sowie ein Interregionalexpress pro Stunde schon vor Inbetriebnahme von Stuttgart 21 die Neubaustrecke nutzen und zwischen Wendlingen und Plochingen die Neckar-Alb-Bahn befahren.
  • Die Bahnsteige in Oberboihingen müssten umfangreich umgebaut werden, da sie sowohl zu kurz, als auch zu niedrig sind. Auch nach einem Umbau wäre der Halt nicht vollständig barrierefrei, da eine Erhöhung der gesamten Bahnsteige auf die Einstiegshöhe der S-Bahn (96 cm über Schienenoberkante) nicht möglich ist. Barrierefrei zugänglich wäre dann jeweils nur die erste Tür der S-Bahn, da am vordersten Ende eine Erhöhung mit Rampe gebaut werden würde.

Bei einem Blick sowohl in den Zielfahrplan Deutschlandtakt 2030 als auch in den heutigen Fahrplan der Regionalzüge offenbaren sich allerdings noch viel weitreichendere Probleme:
Die „neuen“ Zwischentakte der S-Bahn kollidieren mit den Regionalexpress-Zügen von/nach Tübingen. Sowohl im jetzigen Fahrplan als auch im Zielfahrplan 2030 sind die in der Studie gezeigten Fahrzeiten nicht möglich! Ob ein reibungsloser Betrieb mit dem bislang unveröffentlichten Fahrplan nach S21 möglich ist, ist uns derzeit unklar.
Ein ebenfalls in der Studie angesprochener Tausch von Grund- und Zwischentakt wäre zwar möglich, würde aber dazu führen, dass Kirchheim(Teck) außerhalb der Zeiten des 15-Minuten-Taktes keine S-Bahn Anbindung mehr haben würde, weswegen diese Möglichkeit ausscheidet.
Ob eine Verschiebung des Regionalverkehrs von/nach Tübingen um 15 Minuten langfristig mit dem Deutschlandtakt zu vereinbaren wäre, können wir nicht beurteilen. Aufgrund dessen, dass der sogenannte „Metropolexpress“ nach Inbetriebnahme von Stuttgart 21 zwischen Nürtingen und Tübingen alle 15 Minuten fahren soll, müsste wohl auch die neue Linie über den Flughafen dann um 15 Minuten verschoben werden. Dass die Taktverschiebungen ohne Weiteres möglich sind, ist sehr unwahrscheinlich, zumal die Linien im neuen Tiefbahnhof Richtung Heilbronn und Aalen durchgebunden werden sollen.

Generell führt die Verlängerung von S-Bahn Linien mit erhöhtem Mischverkehrsanteil zu steigendem Verspätungsrisiko, da sich Verzögerungen von den Außenästen auf die sowieso stark ausgelastete Stammstrecke übertragen. Fraglich ist auch, ob es wirklich so attraktiv ist, mit einer an jeder Station haltenden S-Bahn aus dem weiteren Umland nach Stuttgart zu fahren. Ein Ausbau des Regionalverkehrs wäre mancherorts wohl sinnvoller. So wäre es eine Prüfung wert, ob nicht besser anstatt einer verlängerten S1 die bereits heute zwischen Herrenberg, Tübingen und Plochingen fahrenden Regionalbahnzüge mit der Ergänzung des Verkehrs zwischen Nürtingen und Plochingen betraut würden. So sieht das Konzept der Regionalstadtbahn Neckar-Alb (RSB), deren Bau bzw. Ausbau mit der Elektrifizierung zwischen Herrenberg und Tübingen bereits begonnen ist, mit den RSB-Linien S6 und S8 zwei Verbindungen von Tübingen bzw. Münsingen ausgehend vor, die beide zusammen die Strecke Reutlingen – Plochingen im Halbstundentakt bedienen sollen.

Auf jeden Fall sollten sich allerdings nun in Auftrag gegebene Studien an dem Deutschlandtaktfahrplan und nicht an anderen Entwürfen orientieren. Wenn auch in Zukunft noch Projekte in Auftrag gegeben werden, die zwar bis zur Einführung des Deutschlandtaktes zielführend sein können, jedoch dann nicht mehr sinnvoll zu gebrauchen sind, führt das alle Bemühungen zur raschen Umsetzung eines deutschlandweiten Taktfahrplans ad absurdum!

Ein Gedanke zu „Eine S-Bahn nach Nürtingen oder ein 15-Minuten Takt auf der S1 Richtung Kirchheim(Teck)?

  1. G. Treuner

    Danke für den schönen Bericht.

    Dem Tenor, dass die Ausdehnung von Mischverkehren für die Zuverlässigkeit ungünstig ist und manches – je nach zukünftiger Entwicklung – eine Zwischenlösung darstellen könnte, kann ich nur zustimmen.

    Andere Punkte in der Studie, die hier unerwähnt blieben, deuten darauf hin, dass man vor lauter Angst, zu viel investieren zu müssen, gezielt Engpässe anvisiert (noch ist ja nichts beschlossen):

    * Das Wendegleis in Nürtingen soll sich die S-Bahn mit der Tälesbahn teilen: geringe Einfahrgeschwindigkeiten garantiert, also bahntechnisch schlecht. Ich sehe neben den vorhandenen Gleisen dagegen noch freies Gelände für ein zusätzliches Gleis.

    * In Böblingen sieht der Plan die kostenintensive Erniedrigung eines Bahnsteigs zu 95% hin zu einer Barriere vor, um Flexibilität für andere Züge mit niedrigeren Einstiegen zu gewinnen, wenn die Zugfrequenzen steigen. Hier muss man unbedingt andere Lösungen finden, sonst steht der nächste Engpass bei der darauffolgenden Steigerung wieder bevor. Es sollte schon um nachhaltige Lösungen für jetzige Engpässe gehen, d. h. um eine Erweiterung des Bahnraums. Mein Vorschlag: Platz für ein Ersatzgütergleis im Umfeld suchen und Im Bahnhof stattdessen einen Bahnsteig bauen.

    Solchen überzeugenderen Ansätzen stehen natürlich die Zuständigkeiten im Weg. Der Bahnhof mit Gleisanlagen gehört DB Netz bzw. dem Bund. S-Bahn und damit alle zugehörigen Aus- und Umbauten müsste allerdings der VRS allein auf den Weg bringen, dessen finanzielle Möglichkeiten auch mit erheblichen Zuschüssen aus Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzen die nötige Dimension solch punktueller, aber wichtiger Änderungen (bei der Fülle aller sinnvollen Maßnahmen) klar übersteigt. An einer Straßenkreuzung ist schnell mal eine Spur dazugebaut. Bahn ist leider eine andere Hausnummer. Vielleicht sollte man im Kontext des Klima- und fälligen Verkehrswandels der Übung halber einmal diskutieren, ob man Straßenraum der Bahn zuschlägt.

    Mehr Mut bitte bei ÖPNV-Ausbauten, und direktes Interesse des Bundes als Eigentümer in Fragen, wo Infrastrukturen mehrere Zugverkehrsarten (wie Fern- und Güterverkehr) betreffen.

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