Automatisierung bei der S-Bahn – Verbesserungspotenzial oder Illusion?

Wer ersetzt den Triebwagenführer bei selbstfahrenden Zügen?

Wer ersetzt den Triebwagenführer bei selbstfahrenden Zügen?

Anlässlich einer Stellungnahme zur Neupositionierung der Einstellung des BUND zu Stuttgart 21 hat sich Regionalpräsident Thomas Bopp auch zum Thema S-Bahn geäußert.

Die Stuttgarter Zeitung vom 25.09.2018 schreibt in S21: Regionalpräsident lehnt Forderung des BUND ab über ihn:

„Als Schlüssel für mehr Kapazität im Nahverkehr sieht er die automatische Zugbeeinflussung der S-Bahn mit dem System ETCS, was dichtere Zugfolge ermöglicht. Das vom Regionalverband in Auftrag gegebene Gutachten werde voraussichtlich ergeben, dass ein automatisiertes Fahren möglich sei. … Eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn durch Stuttgart sei kaum bau- noch finanzierbar und werde durch die digitale Steuerung obsolet, …“

ETCS scheint erneut als Strohhalm herhalten zu müssen, an dem die Hoffnung auf Kapazitätsverbesserung der S-Bahn-Stammstrecke festgemacht wird, weil kaum andere Möglichkeiten in Sicht sind.

Den Ergebnissen eines Gutachtens vorzugreifen, obwohl es noch gar nicht beendet, geschweige denn publiziert ist, ist ein ebenso gerne genutztes wie unseriöses Stilmittel der Politik. So will Herr Bopp schon jetzt wissen, dass das Gutachten im Ergebnis automatisiertes Fahren der S-Bahnen für möglich halten wird, obwohl bisher nicht einmal bekannt war, dass dieses Gutachten automatisiertes Fahren überhaupt untersuchen sollte. Und übrigens weiß man heute schon, dass das ETCS-Konzept in späteren Levels (Ausprägungen) automatisiertes Fahren ohne Eingriff des Fahrers vorsieht. Aber wann dies realisiert sein könnte und ob überhaupt, kann derzeit ohne im Kaffeesatz zu lesen niemand beantworten.

Es ist auch bestens bekannt, dass eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn nicht nur extrem viel Geld und Zeit für ihre Realisierung benötigen würde, sondern auch kaum durchsetzbar wäre. Dass eine zweite Stammstrecke aber durch die digitale Steuerung obsolet werde – obsolet lt. Duden Fremdwörterbuch gleich „ungebräuchlich“, „veraltet“ – ist nun doch ziemlicher Unsinn. Vor fast genau zwei Jahren, am 19.10.2016 wurde im Verkehrsausschuss der Regionalversammlung, dem Herr Bopp vorsitzt, das Ergebnis einer Fahrplanrobustheitsprüfung der DB Netz zu ETCS bei der S-Bahn vorgestellt:
Fahrplanrobustheitsprüfung Ks-Signalisierung und ETCS S-Bahn Stuttgart
Dort war ausgewiesen, dass ETCS auf der Stammstrecke in einer Richtung 1,4 Züge pro Stunde und in der anderen Richtung 2,4 Züge pro Stunde mehr durchschleusen könnte als die konventionelle Ks-Signalisierung. Maßgebend ist hier der geringere Wert, da beide Richtungen von der gleichen Anzahl Züge befahren werden müssen. Die Werte hinterm Komma bringen genau genommen nicht viel, da man nur ganze Züge fahren lassen kann. Die DB Netz hat die genannten Werte auch mit wissenschaftlicher Ehrlichkeit als „theoretische Leistungsfähigkeit“ überschrieben und damit die Annahme gesicherter Realisierbarkeit gewissermaßen verboten.

Auch 1,4 Züge mehr pro Stunde sind eine Verbesserung. Sie ist aber so bescheiden, dass sie vielleicht ein klein wenig zur Dämpfung von Störungs- oder Verspätungsfolgen, aber sicherlich nichts zu realer Kapazitätserweiterung beitragen kann. Es ist rein schon gedanklich bizarr, eine zweite Stammstrecke mit ETCS aufrechnen zu wollen, es sei denn, Herrn Bopp schwebt eine andere digitale Steuerung vor, die nur noch keiner kennt. Wenn wir uns aber an Bekanntes halten, ist bisher kein „digitaler“ Schlüssel für mehr Kapazität im Nahverkehr zu sehen. Wie Herr Bopp gar darauf kommt, dass bei der S-Bahn „etwa 2035 ein 10-Minutentakt umgesetzt werden solle“, ist nicht nachvollziehbar. Wer solche, aus heutiger Sicht gesehen, Utopien in die Welt setzt, muss wenigstens den Versuch zu deren sachlicher Untermauerung unternehmen, sonst kann man seine Aussage nicht ernst nehmen.

Ein wenig Trost in Bezug auf Herrn Bopps Aussagen ist zumindest vorhanden: Wenn er sagt, der Verband müsse „noch in diesem Jahr weitere 20 S-Bahn-Züge bestellen, womöglich aber deutlich mehr“, kann man ihm nur zustimmen. Darin liegt eine tatsächliche Kapazitätserhöhung verborgen, wäre es so doch möglich, im Hauptverkehr alle S-Bahnzüge als Langzüge zu fahren und noch die eine oder andere überschlagene Wende einzurichten. Ob und wie diese Beschaffung zusätzlicher Züge finanziell und zeitlich gelingen könnte, dazu bedürfte es eines separaten kritischen Beitrags.


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5 Gedanken zu „Automatisierung bei der S-Bahn – Verbesserungspotenzial oder Illusion?

  1. Stromabnehmer

    Guter Kommentar!
    Das Hauptproblem, wie schon öfters beschrieben, sind die zu langen Standzeiten in der Stammstrecke. Was soll ETCS hieran ändern? Automatisiertes Fahren bei diesem täglichen Chaos? Lachhaft.
    Und das Problem wird schlimmer: Ständig steigende Fahrgastzahlen und eine immer größer werdende Rücksichtslosigkeit beim Thema „Türen blockieren“ verlängern die Standzeiten immer weiter.
    Soll doch mal einer der Verantwortlichen zur Hauptverkehrszeit einen S-Bahn-Zug pünktlich durch Stuttgart zu fahren versuchen, das ewige Rätselraten über die Verspätungsgründe hätte schnell ein Ende.

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  2. Hosea Winter

    Völlig Richtig,

    aber auch die S-Bahn Stuttgart könnte einiges tun, um den Fahrgastfluss zu verbessern. Eines davon ist, endlich die Automatik so anzupassen, dass ein Piepton kommt, wenn die Türe schließen will (hier schon näher darüber berichtet: https://s-bahn-chaos.de/2018/04/bitte-verlassen-sie-den-bereich-der-offenen-tueren/).

    Das andere wäre, z.B. die Druckknöpfe so ändern, dass man während der Fahrt drücken kann und die Türen dann aufgehen. Das scheint eine Frage der Software zu sein, denn in Wien werden bei den von Bombardier gebauten U-Bahnen und bei den Siemens S-Bahnen die gleichen Knöpfe eingesetzt. Trotzdem kann man vorher drücken und die Türe öffnet sofort danach…

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    1. masterX244

      Die Straßenbahnen in Stuttgart machens genauso. Muss man aber wissen damit man damit noch nen paar Sekunden rausoptimieren kann.

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    2. Stromabnehmer

      Die Türen werden in der Stammstrecke sowieso vom Lokführer zentral geöffnet, schneller geht es gar nicht. Alle Türen gehen gleichzeitig auf.
      Der Punkt ist, daß dann eben ein großer Teil der Fahrgäste durch die erste bzw. letzte Tür einsteigt. Und das dauert. Dazu kommen noch die Türblockierer, die nett sein wollen zu verspäteten Fahrgästen oder weil der Kumpel noch nen Döner holt.
      Das alles summiert sich zu den im Artikel beschriebenen verlängerten Standzeiten.

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    3. Birger

      Seit dem letzten Softwareupdate öffnen beim ET423 (meiner Beobachtung nach) die Türen jetzt schon bei noch ganz leichtem Rollen des Zuges, damit also nochmals etwas eher als vorher. Der Knopf leuchtet auch schon etwas eher. Helfen tut das natürlich nur bedingt – zumal zu frühes Drücken ein Öffnen der Tür für eine gefühlte Ewigkeit verhindert.

      Es ist leider wie auch ETCS ein Tropfen auf den heissen Stein.

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